Ein Jahr Aschaffenburg als „Sicherer Hafen“

Im Mai 2019 hat sich die Stadt Aschaffenburg auf Antrag der Kommunalen Initiative (KI) zum Sicheren Hafen erklärt. Angestoßen hatte den Antrag die Gruppe Seebrücke Aschaffenburg. (Hintergründe und ein Interview mit Seebrücke Aschaffenburg findet ihr hier) Rund ein Jahr später ist es von Seiten der Stadtverwaltung dabei bisher nur bei einem theoretischen Bekenntnis geblieben. Dass dies in Anbetracht der noch immer dramatischen Lage im Mittelmeer, aber auch mit Blick auf die katastrophalen Zustände in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln und in Libyen nicht länger hinnehmbar ist, darauf hat Seebrücke Aschaffenburg in den letzten Wochen immer wieder hingewiesen. Möglichkeiten von einem theoretischen Bekenntnis zur dringend notwendigen Praxis zu kommen gäbe es.

Wir haben mit der Seebrücke Aschaffenburg gesprochen.


361°: Trotz der Erklärung Aschaffenburgs zum Sicheren Hafens scheint sich die Stadtverwaltung nicht mal in Ansätzen darum zu bemühen, dass auch tatsächlich Geflüchtete zugeteilt und aufgenommen werden können. Wie reagiert Ihr darauf? 

 

Seebrücke: Das ist leider zutreffend. Obwohl es eigentlich mehr als genug Anlass zum Handeln gäbe. Der Umgang Europas mit Menschen auf der Flucht ist eine menschliche Bankrotterklärung. Im Rahmen der bundesweiten Kampagne #LeaveNoOneBehind haben wir auch in Aschaffenburg darauf aufmerksam gemacht. Und immer mehr Städte und Kommunen drängen darauf, selbst entscheiden zu dürfen, dass sie Geflüchete aufnehmen können und wollen nicht mehr vom Bundesinnenministerium anbhängig sein. Berlin und Thüringen schreiten voran, indem sie innerhalb der letzten beiden Wochen durch Landesaufnahmeprogramme ein konkretes Aufnahmeangebot für Menschen aus den griechischen Lagern verabschiedet haben. Wenn Städte diese Forderungen stellen, können sie Druck auf ihre Landesregierungen ausüben, die dann dem Beispiel Thüringens und Berlins folgen könnten. Aschaffenburg gehört aber leider (noch) nicht zu diesen Städten, die offensive Forderungen für eine Aufnahme stellen.

361: Antirassistische Gruppen berichten von einer zunehmenden Dringlichkeit, Geflüchtete, die an den Außengrenen Europas gestrandet sind zu evakuieren und sofort hier aufzunehmen. Wie stellt sich die derzeitige Situation für euch dar?

Seebrücke: Auf der griechischen Insel Lesbos leben aktuell mehr als 40.000 Menschen (Stand: März 2020) unter unerträglichen und lebensgefährlichen Bedingungen in Flüchtlingslagern, die eigentlich für 6000 ausgelegt sind. Davon sind allein ein Drittel Kinder und Jugendliche.1

Bereits vor Corona gab es scharfe Kritik von unterschiedlichen Akteur*innen an der Existenz einer solchen „Unterbringung“ von Menschen. Spätestens seit dem Ausbruch der Pandemie stellt sich jedoch nicht mehr die Frage, ob die Menschen evakuiert werden müssen, sondern wann und wie diese Evakuierung schnellstmöglich umgesetzt werden kann.

Absolut fassungslos macht uns vor allem, dass die einzig logische Konsequenz – nämlich sofort zu Handeln und die Menschen zu evakuieren – von den europäischen Politiker*innen konsequent verweigert wird. Die wenigen Menschen, die bisher nach Europa geholt wurden, können wir angesichts der Dramatik der Situation und der vielen Betroffenen nicht einmal als Versuch, die Katastrophe abzuwenden, bewerten.

Deshalb haben wir uns in die #LeaveNoOneBehind-Kampagne der bundesweiten Seebrücke eingereiht und mit diversen Aktionen versucht, das Thema in der Öffentlichkeit zu verbreiten und so Druck auf die Regierungen der europäischen Länder auszuüben. Kurz nach der Grenzöffnung durch die Türkei versammelten sich am 7. März mehr als 100 Aschaffenburger*innen vor der City Galerie, um auf die katastrophale Situation für Flüchtende an der türkisch-griechischen Grenze aufmerksam zu machen (Infos hier). Aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen folgten dann mehrere virtuelle Aktionstage, bei denen unzählige Protestfotos in den sozialen Medien veröffenlicht wurden (siehe hier).

Leider konnte trotz der bundesweit anhaltenden Proteste bisher wenig erreicht werden.

361: Also versucht ihr dran zu bleiben?

Seebrücke: Es gibt leider keinen Anlass, das nicht zu tun. Aktuell haben wir über die Kommunale Initiative einen Antrag an den Stadtrat gestellt, in welchem wir fordern, dass die Stadt Aschaffenburg sich für die Evakuierung der Lager auf den griechischen Inseln ausspricht und dazu bereiterklärt, einen Teil der Menschen aufzunehmen. Am 22.6. wird unser Antrag behandelt. Die Stadtratssitzung werden wir wieder mit einer Kundgebung 17:30 Uhr am Marktplatz vor der Stadthalle begleiten.

Leider ruft die Stellungnahme der Verwaltung zu unserem Antrag bereits dazu auf, dass sich die Stadträt*innen wieder hinter einer vermeintlichen Nicht-Zuständigkeit verstecken werden und den Antrag ablehnen. Damit entziehen sie sich aus unserer Sicht der Verantwortung, sich klar dafür auszusprechen, dass die Menschen evakuiert werden müssen und die Aufnahme von Menschen in Aschaffenburg offensiv anzubieten. Die Stadtverwaltung betont erneut, „dass Entscheidungen über die Aufnahme von Flüchtlingen nicht in die kommunale Entscheidungskompetenz fallen.“ Uns ist bewusst, dass unsere Stadträt*innen nicht die Befugnis haben, darüber zu entscheiden, ob und wieviele Menschen aufgenommen werden könnten. In unserer Forderung geht es deshalb explizit um eine Positionierung. Nur wenn sich mehr Städte und Kommunen in die Forderungen einreihen, dass die Menschen evakuiert werden müssen, wird es möglich sein die Bunderegierung zum Handeln zu zwingen.

Wir werden auch bei einer Ablehnung unseres Beschlusses weiterhin dafür kämpfen, dass Orte wie Moria aufgelöst werden und den Menschen ein Leben in Würde und Sicherheit ermöglicht werden muss. LeaveNoOneBehind wird also voraussichtlich leider weiterhin ein Thema für die Seebrücke Aschaffenburg bleiben müssen.

361: Auch in Deutschland beeinflusst die Pandemie das Leben aller Menschen und schränkt dieses ein. Wie bereits in eurem Artikel „Gleicher Schutz für alle? Corona und das Leben in Sammelunterkünften“ beschrieben, leben und leiden die Menschen in Sammelunterkünften ebenfalls unter katastrophalen Bedingungen, die physische Distanz und Schutzmaßnahmen erschweren bzw. teilweise unmöglich machen. Wie hat sich diese Problematik seit dem Artikel weiterentwickelt?

Seebrücke: Während ein Großteil der Bevölkerung mit Kontaktsperren und anderen Einschränkungen vor einer Infizierung mit dem Virus geschützt werden soll, sind Geflüchtete in Sammelunterkünften nach wie vor in Mehrbettzimmern und Gemeinschaftsräumen, wie Küchen und Bädern einer erhöhten Ansteckunsgefahr ausgesetzt. Diese menschenunwürdigen Unterbringungsmaßnahmen haben dazu beigetragen, dass es mittlerweile in unzähligen Unterkünften in Deutschland Massen-Ausbrüche des Virus gibt. Als Reaktion darauf wurden die Lager komplett abgeriegelt, was die Gefährdung für diejenigen, die bisher nicht infiziert wurden, massiv erhöht. Während in ganz Deutschland nun das öffentliche Leben langsam wieder hochfährt, haben allein die bayerischen Gesundheitsämter mehr als 20 Sammelunterkünfte unter Quarantäne gestellt.

Auch hier fordern unzählige Initiativen seit Monaten die Evakuierung und Umverteilung der Menschen. Neben lokalen Gruppen und Flüchtlingsräten spricht sich mittlerweile sogar das Robert-Koch-Institut dafür aus, „Geflüchtete präventiv nur noch in Einzelzimmern unterzubringen und dafür wo nötig auch Wohnungen und Hotels anzumieten [und] Risikogruppen so schnell als möglich aus den Unterkünften herauszuholen“.2

Glücklicherweise gibt es mittlerweile auch Berichte, dass einzelne Bewohner*innen von Unterkünften durch eine Klage erreicht haben, dass sie ausziehen dürfen, da die Sicherheitsvorgaben der Bundesregierung unter den Lebensbedingungen in Sammelunterkünften nicht eingehalten werden können. In Mannheim wurde nach anhaltenden Protesten die ganze Erstaufnahmeunterkunft geräumt.3

Die Kämpfe sind also nicht umsonst. Auch wenn oft nur kleine Erfolge erzielt werden können, können diese jedoch immerhin eine große Verbesserung der Lebensbedingungen einzelner Menschen bedeuten.

361°: In Aschaffenburg gibt es auch eine Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchete: Was könnt ihr zu der derzeitigen Lage der Menschen dort sagen? Gab es da auch schon Corona-Fälle?

Seebrücke: Soweit wir wissen gibt es bisher glücklicherweise keine positiv getesteten Fälle in der Aschaffenburger Gemeinschaftsunterkunft. Es gab einige Verdachtsfälle, die sich aber alle als negativ herausgestellt haben. Vorerst wurden die leerstehenden Container präventiv umgebaut, um Infizierte von gesunden Menschen trennen zu können, falls erste Fälle auftreten. Mittlerweile sollen aber – nach unseren Informationen – die Menschen, die sich anstecken außerhalb der Gemeinschaftsunterkunft untergebracht werden.

Bewohner*innen berichten uns von ihren Ängsten, sich zu infizieren. Es gäbe keinerlei Ausweichmöglichkeiten zur Nutzung von Gemeinschaftsbädern und -Küchen.

Die angespannte Situation innerhalb der GU kann jederzeit – ebenso wie bereits in anderen Unterkünften passiert – eskalieren. Viele der Bewohner*innen waren bereits in ihren Herkunftsländern oder auf dem Weg nach Deutschland massiven psychischen Strapazen ausgesetzt. Die zusätzlichen Belastungen und Ängste während der Pandemie in der Gemeinschaftsunterkunft und der Mangel an Privatsphäre, können extreme Auswirkungen auf das Zusammenleben der Menschen und auch psychsoziale Folgen haben. Deshalb müssen die Menschen aus unserer Sicht generell, aber vor allem in Zeiten einer Pandemie, anders untergebracht werden als in Massenunterkünften.

361°: Arbeitet Ihr derzeit noch zu andern Themen?

Seebrücke: Es gibt zig Baustellen zu denen eigentlich etwas gemacht werden müsste und die wir auch immer wieder aufgreífen. Angefangen bei bereits genannten Themen wie den Lagern in Griechenland oder Libyen, weiter über die Lage im Mittelmeer, aber auch hier vor Ort in den Sammelunterkünften oder die potentiell anstehenden Abschiebungen nach Syrien.

Wir wollen weiterhin die Situation des Zusammenlebens in der Gemeinschaftsunterkunft – vor allem während der Pandemie – im Blick und in der Öffentlichkeit halten und den Menschen dort eine Stimme geben. Außerdem ist das Thema Syrien besonders akut, da bei der Innenministerkonferenz diese Woche der Abschiebestop nach Syrien beendet oder zumindest aufgeweicht werden soll. Dies wäre aus unserer Sicht eine völlig absurde und nicht zu rechtfertigende Entscheidung.

Unser größtes „Problem“ ist aktuell die personelle Unterbesetzung. Um all diese Themen bearbeiten zu können, müssten wir uns aufteilen, was wir uns allerdings aktuell nicht leisten können. Bei Aktionen haben wir einen größeren Pool an Personen, die sich immer mal wieder gerne beteiligen, aber die kontinuierliche politische Arbeit ist im Moment auf zu wenige Schultern verteilt. Und natürlich hat die Pandemie in den letzten Wochen unsere Arbeit und Zusammenarbeit erschwert. Mit den neuen Lockerungen sollte aber physischen Treffen bald nichts mehr im Wege stehen. Wer Interesse hat, bei uns mitzuarbeiten, kann sich gerne bei uns melden.


 

Die Gruppe Solidarity City/Seebrücke Aschaffenburg trifft sich für gewöhnlich jeden ersten und dritten Mittwoch von 19-21 Uhr im Stern in der Platanenallee. Seit Ausbruch der Pandemie fanden keine physischen Treffen statt, wir wollen dies jedoch nach den aktuellen Lockerungen wieder ändern. Wer Interesse hat und Kontakt aufnehmen will, kann dies aber auch via Mail, Facebook oder Instagram tun.

Mail: solidarische-stadt@w2s-cafe-ab.de

Facebook: Solidarity City Aschaffenburg & Seebrücke Aschaffenburg

Instagram: seebruecke_solicityab

1 Vgl.: https://www.proasyl.de/thema/fluechtlinge-in-griechenland/
2 Vgl.: https://www.fluechtlingsrat-bayern.de/robert-koch-institut-empfiehlt-schutz-gefluechteter-nichts-passiert/
3 Vgl.: https://kommunalinfo-mannheim.de/2020/06/04/raeumung-der-lea-und-wie-es-weiter-geht-im-sicheren-hafen-mannheim/

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