Gleicher Schutz für alle? Corona & das Leben in Sammelunterkünften

Ein Gastbeitrag der Seebrücke Aschaffenburg

Du hast keinen Bock mehr auf Isolation, fühlst dich einsam und durch die Schutzmaßnahmen in deiner Freiheit eingeschränkt?

Wusstest du, dass in Sammelunterkünften Menschen teilweise jahre- und jahrzehntelang unter ähnlich – und gleichzeitig ganz anderen – eingeschränkten und menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen?

Einerseits sind diese Lager isoliert von der Außenwelt, hinter Zäunen, mit Sicherheitsdienst und oft in Industriegebieten ohne direkte Nachbarschaft. Gleichzeitig leben dort bis zu 1000 Menschen auf engstem Raum, müssen sich im schlechtesten Fall mit Hunderten Küche und Badezimmer teilen, leben zu viert oder fünft in einem Zimmer, ohne einen privaten Rückzugsort.

Laut Statistik des Innenministeriums sind derzeit (Stand: 20.03.2020) allein in Erstaufnahmeeinrichtungen bundesweit mehr als 40.000 Menschen untergebracht. Eine weit größere Zahl ist es in Gemeinschaftsunterkünften, welche jedoch nicht genau von den Bundesländern erfasst wird. „Während in Bayern beispielsweise etwa 6.600 Menschen in sogenannten Anker-Zentren leben, leben mehr als 58.000 Personen in Anschlussunterbringungen mit mehr als zehn Bewohner*innen.“1 Diese Art der Unterbringung begünstigt systematische Ausgrenzung und eine Stigmatisierung der Menschen, die gezwungen sind dort zu leben.

Doch Sammelunterkünfte und Ankerzentren stehen nicht erst seit Beginn der Pandemie in der Kritik. In der aktuellen Situation zeigt sich allerdings deutlicher, dass in Krisen genau die Menschen am intensivsten leiden, die auch sonst nur schwer einen einigermaßen lebenswerten Platz im kapitalistischen System ergattern können.

Corona und Sammelunterkünfte

Am 12. März erweiterte die Bundesregierung die Leitlinien zur Beschränkung sozialer Kontakte: Bürger*innen sollen ihre sozialen Kontakte außerhalb des eigenen Haushalts auf ein absolut nötiges Minimum reduzieren und in der Öffentlichkeit einen Mindestabstand von 1,50m zu anderen Personen einhalten.2 Hier stellt sich zurecht die Frage wie das unter oben genannten Wohnbedingungen auch nur ansatzweise eingehalten werden soll? Tatsächlich findet das Virus in Sammelunterkünften nahezu perfekte Bedingungen vor, um sich möglichst rasant zu verbreiten: Gemeinschaftsküchen, geteilte Sanitärbereiche und Mehrbettzimmer – und keine Chance der Infektionsgefahr aus dem Weg zu gehen.

Dementsprechend war es mehr als absehbar, dass die ersten bestätigten Covid-19-Befunde festgestellt und sich in kürzester Zeit sehr viele Menschen anstecken würden. Es gibt schwere Vorwürfe, dass am Virus Infizierte nicht schnell und wirksam von anderen Bewohner*innen getrennt und viele Menschen einfach dem Schicksal überlassen werden.

In der Landeserstaufnahmestelle Ellwangen (LEA) – in Baden-Würtemberg an der bayerischen Landesgrenze – wurde nach Feststellung der ersten Infizierten die komplette Einrichtung abgeriegelt und unter Quarantäne gesetzt. Nachdem sich während der Quarantäne (überraschenderweise) mehr als die Hälfte der Bewohner*innen infiziert hatten, wurde die Ausgangssperre um zwei Wochen verlängert. Für die bis dato nicht infizierten Geflüchteten gab es ab diesem Zeitpunkt keinen Schutz mehr. Keiner raus – keiner rein.3

„Der Lagerleiter Berthold Weiß versuchte die Menschen im Lager mit dem Hinweis zu beruhigen, die Todesrate sei bei Menschen ihres Alters unter ein Prozent. Mit anderen Worten, in der LEA sei höchstens mit 5 bis 6 Todesopfern zu rechnen.“4

Nach knapp 4 Wochen Ausgangssperre sind statt der Anfangs sieben Infizierten 406 der 600 Bewohner*innen positiv getestet worden – das sind 68%. Laut einem Sprecher des Regierungspräsidiums Stuttgart habe man „die Situation im Griff“, doch die Zahl der Infizierten steigt weiter.5

Statt die meist sowieso vorbelasteten Menschen pädagogisch und psychologisch zu unterstützen und Aufklärungsarbeit zu leisten, werden diese nun von der Bundeswehr mit Lunchpaketen versorgt und die Polizei patrouilliert entlang des Stacheldrahtzaunes.6

Mitte April informiert das WDR über ähnliche Situationen in einer Unterkunft in Bielefeld, in der Mitte April 48 Menschen (von 338) positiv getestet wurden. Hier leben Familien teilweise zu 6 in einem Raum und durften diesen für mehrere Tage nicht verlassen.7

Und dies sind leider keine Einzelfälle.

Am 20.4. kam die Meldung, dass die erste Person in einer Sammelunterkunft in Unterfranken an den Folgen der Corona-Erkrankung verstorben ist. Er gehörte mit seinen 60 Jahren und diversen Vorerkrankungen zu den Risikogruppen, die es eigentlich besonders zu schützen gilt.

Der bayerischer Flüchtlingsrat äußert die Befürchtung, dass es angesichts der unveränderten Situation in den Unterkünften nicht der/die* letzte Infizierte und auch nicht der/die* letzte Tote bleiben wird.

„Die ganze Welt leidet unter der Corona-Pandemie und es wird auch weiterhin Menschen geben, die ihren schweren Erkrankungen erliegen, das Virus differenziert dabei nicht nach Staatsangehörigkeit, Herkunftsland oder Aufenthaltsstatus. Generell werden Menschen, die zu Risikogruppen gehören, besonders geschützt. Verdachtsfälle und Infizierte werden umgehend isoliert und unter häusliche Quarantäne gestellt, um eine Weiterverbreitung der Infektion zu vermeiden. Flüchtlinge sind jedoch einem besonderen Risiko ausgesetzt, denn bei ihnen ist das Gegenteil der Fall: Die Risikogruppen werden nicht aus dem Gefahrenbereich gebracht, sondern weiter in den Flüchtlingsunterkünften untergebracht. Treten Infektionen auf, werden gleich ganze Unterkünfte unter Quarantäne gestellt und eine Infektion aller Bewohner*innen wird in Kauf genommen.“8

Geklagt und gewonnen!

Doch es gibt immer auch Licht im Dunkeln, auch wenn es näher betrachtet eher das Dimmen eines Glühwürmchens ist.

In Sachsen hat vergangene Woche das Verwaltungsgericht Leipzig entschieden, dass auch in Flüchtlingsunterkünften der vorgegebene Mindestabstand von 1,5m eingehalten werden müsse und dies in Toiletten und Duschen, die mit weiteren 50 Menschen geteilt werden und Mehrbettenzimmern nicht möglich wäre. Der Antragsteller dürfe – laut Gerichtsbeschluss – vorläufig aus der Unterkunft ausziehen.

Der bayerische Flüchtlingsrat erstattete bereits Anfang April Anzeige gegen das Innenministerium und die Bezirksregierungen mit der Begründung, dass die Unterbringung in Ankerzentren gegen die Verordnungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie verstoße.9

Umverteilung in leerstehenden Hotels und Herbergen

In diversen Petitionen wird eine Umverteilung der Menschen aus den Lagern in leerstehende Hotels und Herbergen gefordert.10 Dennoch kann diese Maßnahme nur ein erster Schritt sein. Den Menschen muss auch nach der Pandemie die Möglichkeit offenstehen außerhalb von Sammelunterkünften leben zu können. Doch diese Option ist aktuell weniger denn je in Aussicht, blickt man beispielsweise auf die anstehende erste Stadtratssitzung, in der ab Anfang Mai dann auch in Aschaffenburg Faschisten sitzen und ihr rassistisches Gedankengut in die Debatten einbringen.

LeaveNoOnBehind – Überall!

Leave No One Behind gilt nicht nur für die Menschen in den griechischen Lagern, sondern auch für jene, die in Deutschland in Sammelunterkünften leben müssen.

Leave no One Behind: Das soll heißen, dass wir niemanden zurücklassen wollen – nirgendwo. Weder in Armut, Hunger, Krieg und Verfolgung im Herkunftsland noch in Lagern wie in Libyen oder an der griechischen Grenze. Genauso gilt das aber auch für die Menschen, die in Deutschland und anderen europäischen Ländern zu Hunderten in Lagern untergebracht sind.

Die Betroffenen sind Männer, Frauen & Kinder, Eltern, Großeltern, Tanten & Onkel, Brüder und Schwestern und wünschen sich – ebenso wie jede*r von uns – ein sicheres Leben und Normalität, soweit das eben in Zeiten wie diesen möglich ist.

Deshalb fordern wir die Staatsregierung auf, die Gesundheit der Flüchtlinge auf die gleiche Stufe wie die der deutschen Bevölkerung zu stellen. Dazu gehört auch, endlich die Belegung zu entzerren und leerstehende Zimmer zu nutzen, wo es noch nicht geschehen ist.

Denn: Wir haben Platz!

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