Kein Leserbrief

Am Dienstag, 17.11.2020, druckte das Main Echo einen Leserbrief ab, der zu Recht für Aufregung sorgte. Darin ergeht sich der Schreiber in einer seltsamen, rassistischen Betrachtungen bzgl. Abstammung und Hautfarbe der künftigen US-Vizepräsidentin Kamala Harris.
Ob es sich bei dem Leserbrief um einen vorgeblich dümmlichen oder gänzlich böswilligen Provokationsversuch handelt, lässt sich hier nicht mit Sicherheit sagen. Zu Konfus und Sinnbefreit erscheint das Geschreibsel, welches einen biologistischen Rassismus reproduziert, der in der BRD des 20. Jhd. mal zum Standardrepertoire der Gutbürgerlichen gehörte – und offenbar noch immer gepflegt wird. Er setzt sich aus Versatzstücken von Kolonial- und NS-Rassismus zusammen und betont den eigenen Chauvinismus. In völliger Unkenntnis oder Ignoranz gegenüber den antirassistischen Diskursen der letzten Jahrzehnte. Es gibt gute Gründe, Kamala Harris und ihre Stilisierung als Hoffnungsträgerin zu kritisieren – die Bewertung ihrer Hautfarbe ist allerdings keiner davon.

Eine solche Veröffentlichung im ME, farbig hervorgehoben und grafisch aufbereitet an prominentester Stelle – was hat das zuständige Ressort und vor allem die Chefredaktion geritten, dazu ihr Ok zu geben?
Die veröffentlichte Entschuldigung am nächsten Tag durch die Chefredaktion war oberflächlich und unkonkret. Das Zustandekommen dieser Veröffentlichung hinterlässt offene Fragen, da die Verantwortung für die Wortwahl einzig dem Verfasser zugeschoben wird. Gleichzeitig will man aber jeglichem Rassismus keine Plattform bieten. Ob es noch eine tiefergehende Auseinandersetzung innerhalb der Redaktion über diesen peinlichen Vorfall geben wird, liest sich nicht heraus. Es wäre bitter Nötig, aber die Erwartungshaltung als kritische Leser*in ist da nicht besonders ausgeprägt. Und vielleicht will man ein bestimmtes Leserklientel auch nicht verlieren. Dann müsste sich die Redaktion mit dem Vorwurf einer falsch verstandenen „Neutralität“ beschäftigen.

Entschuldigung der Chefredaktion, Leserbrief 1 und Leserbrief 2

Im kommunalen Diskurs nimmt das ME zweifellos noch eine bedeutende Rolle ein, auch vor dem Hintergrund des allgemeinen Wandels der Medien-Branche und der Verschiebung politischer Diskurse in den digitalen Raum. So gehört kommunalpolitische Meinungsmache, z.B. in den Artikeln von Redakteur Freudenberger, ebenso zum gewohnten Programm wie die Veröffentlichung von zweifelhaften Leser*innenmeinungen. Das sorgt natürlich für politische Diskussion, es verleiht bestimmten Positionen aber auch eine scheinbare Relevanz und bestimmt für die Leserschaft, was sagbar ist und was nicht. Politische Macht, die sich an der ideologiegeprägten Aufrechterhaltung der herrschenden Verhältnisse beteiligt, da braucht man sich keine Illusionen zu machen.
Als aktuelles Beispiel wäre hier die Veröffentlichung eines Leserbriefes am 20.11.2020 zu nennen, der die IL Aschaffenburg als „linksextrem“ im Sinne des Verfassungsschutzes (dessen ehemaliger Chef H.G. Maasen mittlerweile mit der extremen Rechten kuschelt) bezeichnet und ihr absprechen will, an antifaschistischen Gedenken teilnehmen zu dürfen. Eingereicht von einem ehemaligen Polizisten, dem die Thematisierung extrem rechter Tendenzen in Polizei, Bundeswehr und anderen Behörden und die Beteiligung an der Kampagne „Entnazifizierung jetzt!“ durch die IL Aschaffenburg wohl sauer aufstößt. Getroffene Hunde bellen und Antifaschist*innen wissen eh: Rechts ist, wo die Mitte ist. Nehmen wir es als Anlass, mal wieder auf den Irrsinn der Extremismustheorie hinzuweisen.

Doch wie ist die Relevanz des ME derzeit zu bewerten, wenn Hundertausende in den Social Media regelmäßig mit übelster rechter Propaganda überschwemmt werden (derzeit z.B. in Querdenker-Gruppen u.a.) und dort eine viel massivere Beeinflussung und Diskursverschiebung nach Rechts stattfindet, als es ein Leserbrief im Main Echo jemals bewirken könnte? Ist unser Problem, aus antifaschistischer Perspektive, dass die scheinbar heile Welt der Lokalpresse durch einen wiederlichen Leserbrief erschüttert wird? Oder ist das nicht ein Symptom für ein viel schwerwiegenderes Problem, dem wir unserer Aufmerksamkeit schenken sollten?

Kommentar von Paul (IL Aschaffenburg)

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