Das Thema „Krieg oder Frieden“ wird zu wenig aufgegriffen

Für Samstag den 20. April rufen verschiedene Initiativen zum Ostermarsch 2019 auf. Wir haben Mitorganisator Reinhard Frankl ein paar Fragen rund um den Ostermasch und die allgemeine Entwicklung der Friedensbewegung gestellt.

361°: Auch in diesem Jahr mobilisiert wieder ein Vorbereitungskreis zu einem Ostermarsch. Bundes­weit gehen rund um die Osterfeiertage seit Jahrzehnten Menschen auf die Straße um für Frieden und Abrüstung zu demonstrieren. Was hat es damit auf sich und warum findet das Ganze an Os­tern statt?

Reinhard Frankl: Da ich nicht alt genug bin, um die Anfänge der Ostermärsche bewusst erlebt zu haben, muss ich hier auf Wissen zurückgreifen, das man nachlesen kann: Die Anstöße zur Ostermarschbewegung gehen auf direkte Aktionen britischer Friedensaktivist*innen zurück, „um den totalen Verzicht auf den Atomkrieg und seine Waffen als einen ersten Schritt zur Abrüstung durch Großbritannien und alle anderen Länder zu erreichen“ Warum an Ostern? Die Campaign for Nuclear Disarmament (CND) organisierte Ostern 1958 einen Marsch von London zum Atomforschungszentrum Alder­maston, an dem wohl rund 10.000 Menschen mobilisiert werden konnten. 10 Tage später fanden Demonstrationen in Bremen, Kiel, München, Mannheim, Dortmund Essen und Hamburg mit „weit über 120.000 Teilnehmenden“(Wikipedia) statt. Im Frühjahr 1958 erreichten die Massenkundgebun­gen insgesamt etwa 1,5 Millionen Teilnehmer*innen.

Meine ersten bewussten Kontakte mit Auswirkungen der Ostermärsche waren die Protestsongs von Pete Seeger (*1919, Bild, Anti-Nuclear-March Ostern 1961), Bob Dylan und Joan Baez – Lieder wie „The Easter Marchers“, „We Shall Overcaome“, „Where Have All The Flowers Gone?“, „Just A Little Rain“ oder „Blowin‘ In The Wind“, die wir ab der zweiten Hälfte der 60er Jahre zur Gitarre begeistert und bewegt nachsangen.

1960 war der erste mehrtägige Marsch über die Osterfeiertage in Hamburg organisiert worden, da­mals in Abgrenzung gegen Links ausschließlich „gegen atomare Kampfmittel jeder Art und jeder Nation“ in Ost und West. In den folgenden Jahren gingen an Ostern immer mehr Menschen an im­mer mehr Orten auf die Straße, um für ein Ende der atomaren Bewaffnung und des nuklearen Rüs­tungswahnsinns auf beiden Seiten des Kalten Krieges zu demonstrieren.

 

361°: Auch in Aschaffenburg gibt es jährlich Kundgebungen. Wie weit reicht hier vor Ort die
Geschichte zurück?

Mit den NATO-Plänen zur Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen auch in Westdeutsch­land gewann die Friedensbewegung ab den Achtziger Jahren massenhaft Auftrieb. Im Herbst 1980 wurde in Aschaffenburg die erste Friedenswoche durchgeführt, und zur Vorbereitung einer solchen ab 1981 ein „Aktionskomitee Friedenswoche“ gebildet.

Am 20.10.1983 erschien zur Friedenswoche eine ganzseitige Annonce im MAIN-ECHO mit ca. 400 Unter­schriften unter der Überschrift „Lehrer und Erzieher gegen atomare Aufrüstung“. Ca. 1000 Men­schen umzingelten in einer Kette das Areal der von der US-Army benutzten Jäger-Kaserne.

1985 gab es dann den ersten Aschaffenburger Os­termarsch (Bild). Weitere Höhepunkte der Beteili­gung lagen 1991 zum ersten Golfkrieg und 1999, als auf Betreiben der rot-grünen Regierung erst­mals seit 1945 von Deutschland aus wieder Kriegs­handlungen ausgingen und Belgrad bom­bardiert wurde.

Am 20. März 2003 anlässlich des US-Angriffs auf den Irak sammelten sich über 1000 Schüler*innen am Stiftsplatz. Vier Wochen später wurden am Os­termarsch von der Polizei gerade noch gut 100 Teilnehmer*innen gezählt. Das ist die maximale Größe, mit der wir in den letzten und auch dieses Jahr leider nur rechnen können.

361°: In den letzten Jahren wurde der Friedensbewegung oft vorgeworfen, offene Flanken zur politi­schen Rechten aufzuweisen und teilweise unkritisch mit ihr zusammenzuarbeiten. Stichworte Querfront, platter Antiimperalismus, Verschwörungstheorien, unkritische Palästinasolidarität, etc.
Diese Debatte spitzte sich im Zuge des s.g. Friedenswinter 2014/2015 zu. Der bundesweit be­kannte Aktivist Monty Schädel forderte gar einen Neustart der Friedensbewegung. Wie hat sich die Debatte seit 2015 weiter­entwickelt und was hat sich geändert?

Du machst hier den gesamten Bauchladen von Narrativen und ideologisch behafteten Angriffen auf. Und wenn ich „Bauchladen“ sage, meine ich durchaus auch, dass ich oft erlebt habe, wie solche Vorwürfe aus dem Bauch heraus vorgetragen bzw. nacherzählt wurden. Zu untersuchen wäre, wer ist es, der hier wem was vorwirft. Das kriegen wir in einen Interview nicht hin. Zumindest bestehe ich dar­auf, dass wir hier, wie man so schön sagt, differenzieren müssen. Da ist m. E. schon mal ers­tens zu unterscheiden zwischen der so genannten „Friedensbewegung 2014“ und dem was sich „Friedens­winter 2014/15“ nannte. Fakt ist, dass es vor dem Hintergrund der Ereignisse in der Ukrai­ne 2014, die den neuen Kalten Krieg für alle überdeutlich sichtbar machte, eine neue Bewegung ge­gen die sich verschärfende Kriegsgefahr hoch kam – und mit ihr in der Tat regelrechte Querfrontver­suche. Stramme Rechtsausleger wie Jürgen Elsässer (1990 – noch als Schreiber des KB-Organs AR­BEITERKAMPF – mit dem Artikel „Warum die Linke antideutsch sein muß“ Begründer der antid­eutschen Strömung) hatten bei Friedensdemonstrationen offen zur Bildung zu einer solchen Quer­front aufgerufen. Fakt ist aber auch, dass es gerade Peter Strutynski – bis zu seinem viel zu frü­hen Tod 2015 Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag – war, der in einem jw-Artikel vom 26. Mai 2014 klar die Querfronthaltung „weder rechts noch links“ der so genannten Montagsmahn­wachen gegeißelt hat. Seine Behauptung dort, die NPD habe die „Friedensbewegung 2014“ ins Le­ben gerufen, konnte er allerdings nie belegen. Ulla Jelpke von der LINKEN hat das vier Tage später in einem Artikel am gleichen Ort zurecht gerückt: die NPD hatte sich an diese „Neue Friedensbewe­gung“ angehängt. Schlimm genug. Von „unkritischer Zusam­menarbeit“ kann generell für die Frie­densbewegung jedenfalls m. E. gar keine Rede sein. Zweitens waren damals Friedensdemonstration wie z. B. in Leipzig Querfront-Vorwürfen – vornehmlich aus dem antideutschen Lager – ausgesetzt, die in keiner Weise zutrafen. Der Friedenswinter 2014/15 war der Versuch, die nicht-faschistischen Teile der Mon­tagsdemos mit der „klassischen“ Friedensbewegung auf klar antifaschistischer Basis zusam­men zu bringen. Schlusspunkt dieses Versuchs war eine Demonstration am 10. Mai 2015 in Berlin (s. frie­denswinter.de).

Für die Kasseler Friedensrat­schläge – einem jährlichen Kulminations­punkt der or­ganisierten Friedensbewegung – spielte er nie eine entscheidende Rolle. Die Angriffe aus dem anti­deutschen Spin heraus – gerne von den so genannten Leit- und Qualitätsmedien aufge­griffen – ge­gen Aktionen der Friedensbewegung und die Ostermärsche gingen und gehen allerdings weiter. Das hat natürlich damit zu tun, dass es bei nachgewiesenermaßen anhaltender Antikriegshal­tung in der deutschen Bevölkerung starke Interessen von außen und „von oben“ gibt, die Friedens­bewegung zu schwächen und zu spalten. Und wie immer gelingt so etwas am besten, wenn man von innen heraus arbeiten kann – meint hier: unter fortschrittlichem oder gar linkem Mäntelchen.

Vielleicht noch kurz zum Stichpunkt „unkritische Palästinasolidarität“: Zu meinen Ausführungen auf dem Ostermarsch 2002 bezüglich des immer wieder kriegerisch ausbrechenden Israel-Palästina-Konflikts (http://www.ag-friedensforschung.de/bewegung/Ostermarsch2002/frankl.html oder http://archiv.friedenskooperative.de/themen/om02-070.htm) habe ich auch heute nichts hinzuzufügen und ich weiß, dass ich damit auch die vornehmliche Haltung der Friedensbewegung dazu ausgedrücke. Klar ist: Kritik an Kriegshandlungen, Siedlerkolonialismus und menschen- wie völkerrechtswidriger­ Besatzungspolitik muss sein – Antisemitismus und Friedensbewegung gehen nie zu­sammen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass – wie oben im geschichtlichen Abriss schon herauszulesen – Ostermarsch- bzw. Friedensbewegung nie „pur links“ (was auch immer das sein mag) waren, sondern – wie jede soziale Bewegung – immer bürgerliche Bündnisse gebraucht haben, um eine gewisse Breite zu erlangen. Das wird auch in Zukunft so sein.

361°: Auffällig bei den Ostermärschen ist das hohe Durchschnittsalter. Den Organisator*innen wird auch vorgeworfen, bloß noch Ritual und Überbleibsel der Generation „Friedensaktivismus“ zu sein, bei dem es um die immer gleichen Aktionsformen bei fast immer gleichen Inhalten gehe. Kannst du diese Kritik nachvollziehen?

Nun, ich kann nicht nur, ich muss – was den Altersdurchschnitt angeht – den beschreibenden As­pekt dieser Kritik nachvollziehen und leider als Fakt zur Kenntnis nehmen. Was die wertende Seite angeht, „bloß noch Ritual usw.“, kann ich mich eines Geschmäckles von Heuchelei nicht erwehren. Will meinen: wollen diese Kritiker*in­nen wirklich, dass es anders wäre? Was tun sie dafür? Festzu­halten ist, dass die „fast immer gleichen Inhalte“ nicht von der Friedensbewegung, sondern von im­perialistischen Interessen und kriegstreibenden Mächten bestimmt werden. Den organisierten Wunsch, Krie­ge zu beenden oder gar zu verhindern als „bloßes Ritual“ zu verunglimpfen, halte ich für zynisch. Ein MAIN-ECHO-Reporter hat einmal in seinem Bericht zu einem Antikriegstag mit genau diesem Vorwurf gearbeitet und den Vorschlag unterbrei­tet, doch lieber ein Rock-Konzert zu veranstalten. Erstens waren große Friedens-Kundgebungen regelmäßig mit durchaus prominenten Musikauf­trit­ten bestückt und auch im Zuge unserer lokalen Kundge­bungen gegen den Jugoslawien­krieg ist z. B. die Houze-Band in der Herstallstraße aufgetre­ten. Also nichts Neues, gerne auch wie­der. Zweitens können immer wie­der­kehrende Musik-Festivals oder an­dere Event-Formate auch Ri­tual- bzw- Wallfahrtscharakter bekommen …

361°: Linke der jüngeren Generation scheinen sich mit dem Thema Krieg & Frieden, wenn überhaupt, nur anlassbezogen auseinanderzusetzen. Wir als Gruppe nehmen uns hier auch nicht aus: Ob­wohl sich die Anzahl an kriegerischen Konflikten weiterhin auf höchstem Niveau befindet, spielt das Thema bei uns eine absolut untergeordnete Rolle.
Ob das jetzt an der Außendarstellung der Friedensbewegung, dem Fehlen einer direkten Betrof­fenheit, den Zweifeln hier tatsächlich etwas verändern zu können oder einem Gemisch diverser Gründe liegt, kann ich mir selbst nicht ganz erklären. Hast du hierfür einen Erklärungsansatz?

Erstens: Das Thema „Krieg oder Frieden“ wird aus unserer Sicht von Jüngeren sicherlich zu wenig aufgegriffen. Das hat natürlich damit zu tun, dass wir Ältere die Katastrophe des Zweiten Weltkrie­ges noch sehr nahe in oft sehr drastischen Erzählungen aus erster Hand manchmal bis zum sprich­wörtlichen Erbrechen erlebt haben. Die Proteste gegen den Vietnam-Krieg haben unsere jugendli­che Sozialisation geprägt, die Friedensbewegung war für uns eine Selbstverständlichkeit, wie sie es für die heutige Jugend eben nicht mehr ist. Aber auch hier gilt: Vorsicht vor Verallgemeinerun­gen! Ich treffe auf dem Friedensrat­schlag jährlich eine Gruppe sehr engagierter und politisch bewusster jüngerer Teilnehmer*innen aus Köln. Es gibt sie also doch! Zweitens: Die gesamte Friedensbewe­gung hatte immer ihre anlassbezo­gene Wellenbewegung und an ihren anlassbedingten Höhepunkten war die Jugend immer dabei. Ich erinnere an den 20. März 2003 auf dem Stiftsberg in Aschaffen­burg. In meinem Stopp-Ramstein-Lied singe ich „Seit nunmehr über 70 Jahren marschier’n wir ge­gen Faschismus und Krieg. Man­ches Mal Hunderttausende waren, manchmal nur hundert mit auf dem Weg. Wir wer‘n den Marsch niemals aufgeben gegen die Rüstung in Ost und West …“

361°: Was sind die inhaltlichen Aufhänger, um in diesem Jahr auf die Straße zu gehen? Bei welchem Thema setzt ihr in 2019 die Schwerpunkte?

Wie du selbst sagtest, gibt es weiterhin viel zu viele Gewaltkonflikte, die als Aufhänger dienen könnten, ob in Syrien und in den kurdischen Autonomie-Gebieten, im Jemen, in Afghanistan, in der Ukraine, die wachsende EU-Mi­litarisierung, die Rüstungsexporte, die Drehscheibe des mörderi­schen Drohnenkrieges Ramstein oder die anhaltenden Auslandseinsätze der Bundeswehr.

Erster Schwerpunkt unseres diesjährigen Aufrufes ist das irre Zwei-Prozent-Ziel, das die NATO – übrigens auf starkes Betreiben gerade auch der deutschen Regierung – schon vor einigen Jahren ausgegeben hat. US-Präsident Trump hat es hervorgekramt und Frau von der Leyen hat es – im Ge­gensatz zu dessen sonstigen politischen Salto mortale – gerne wieder aufgenommen. Mit einem Rüstungsbudget von zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes würde die leistungsstärkste europäi­sche Volkswirtschaft natürlich auch die militärische Vorherrschaft in Europa gewinnen … In einer Zeit, in der jeder Euro auf dem sozialen Sektor bitter gebraucht wird, erscheint uns dieses Ziel gera­dezu pervers. Wir sagen: Abrüsten statt aufrüsten!

Zweiter Schwerpunkt wird ohne Zweifel der neue Ost-West Konflikt sein, den EU- und NATO-Ost­erweiterung heraufbeschworen haben. Neu insofern, als es nicht mehr ein Konflikt zweier Gesell­schafts-Systeme ist und er sich wesentlich asymmetrischer darstellt als zu Zei­ten des NATO-Dop­pelbeschlusses vor 35 Jahren. Die aktuelle Kündigung des INF-Vertrages von Seiten der USA und danach von Seiten Russlands im Rahmen dieses Konfliktes bildet zusammen mit der schon unter der Ägide von Herrn Obama und Frau Clinton angekündigten Modernisierung der Atomwaffen eine neuer­lich akute atomare Kriegsgefahr in Europa. Im Aufruf zu unserem Ostermarsch schreiben wir:

„Sollte die Kündigung des INF-Vertrages in Kraft treten, droht nach vorherrschender militärischer Logik ein erneutes atomares Wettrüsten in Europa. Der neu aufgeflammte Ost-West-Konflikt kann nicht mehr mit System-Konkurrenz beschrieben werden. Auf beiden Seiten geht es um Interessen oligarchischer Kapitalgruppen. Wir verweisen darauf, dass die Rüstungsausgaben der NATO der­zeit das 15-fache derjenigen Russlands betragen. Entspannung ist dringend angesagt. Die militäri­sche Bedrohung trifft uns konkret: Das Lager für 20 US-Atomsprengköpfe in Büchel (Eifel) und die Drohnen- und Truppen-Drehscheibe Air Base Ramstein werden die ersten Ziele in einem militäri­schen Ost-West-Konflikt sein. Beide liegen nur max. 150km Luftlinie von Aschaffenburg entfernt! Im Rhein-Main-Gebiet konzentrieren sich wichtige Einrichtungen der US-Kriegsmaschinerie, u.a. das europäische Hauptquartier der US-Armee, das Army Airfield Wiesbaden in Erbenheim, das zentrale NSA-Kommunikationscenter für Europa, Asien und Afrika.“

Warum eine solche fatale Lebensbedrohung von politisch wachen jungen Menschen auch nicht nä­herungsweise in der gewünschten Breite aufgegriffen wird? Nein, so richtig erklären kann ich mir das auch nicht. Insbesondere, wenn ich sehe, dass z. B. In Sachen Klimakatastrophe tolles Engage­ment gegen lebensbedrohende Entwicklungen möglich ist. Also: auf zum Aschaffenburger Osterm­arsch! – Auch wenn am Ostersamstag kein Unterricht ausfällt …

361°: Wir danken dir für die Beantwortung der Fragen!


Reinhard Frankl, Jahrgang 1954, ist neben den Ostermarschaktivitäten vor allem aktiv bei Attac, der GEW und im Bündnis gegen Rechts.

Die im Beitrag gezeigten Bilder sind aus der Broschüre „Aschaffenburger Friedenswoche ’85“; Friedenskomitee Aschaffenburg 1985 (Hrsg.)

Das könnte dich auch interessieren …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert